Faktencheck Artenvielfalt

Ein Beitrag von Reinhard Witt

Es ist 1980. Der Patient hat Fieber. Ihm geht es nicht gut. 1990. Das Fieber ist trotz mehrerer Arztbesuche und vieler Beratungen nicht besser geworden. 2000, 2010, 2020, und dann jetzt, heute, 2024: der Patient wird erneut untersucht, und wen wundert es. die Diagnose lautet: ziemlich hohes Fieber.

Der Patient ist der Artenschutz. Das Fieber sind die Menschen. Der Artenschutz hat also den Menschen im Hals und das macht ihn echt krank. In vielen Büchern, wissenschaftlichen Studien wurde die letzten 50 Jahre beschrieben, wie es dem Patienten geht. Die Diagnose hat nicht geholfen. Es wurden zwar Maßnahmen erwogen bzw. vorgeschlagen und verschiede therapeutische Ansätze überlegt, sogar das eine oder andere Rezept ausprobiert, aber geholfen, wirklich geholfen haben sie nicht. Das Fieber steigt und steigt. Dem Patienten geht es zunehmend schlechter.

Die wohl umfassendste Studie dazu heißt Faktencheck Artenvielfalt. Sie wurde finanziert vom Bundesforschungsministerium und Ende September in Berlin vorgestellt. Das Fieber messen hat vier Jahre gedauert und ist die umfassendste Diagnose, die der kranke Patient über sich ergehen lassen musste. Dutzende von Universitäten und Institutionen aller Fakultäten, hunderte von Wissenschaftlern, hunderte von Gutachtern haben eine Patientenakte geschrieben, die 1200 Seiten dick ist und mit der man, wen man sich nicht in Acht nimmt und sie gut festhält, den Patienten erschlagen kann.

Die Leistung ist wirklich einmalig, vor allem weil so viele verschiedene Menschen und Disziplinen daran teilgenommen haben. Die Diagnose lautet, grob zusammengefasst: Einigen Insekten und Vögeln geht es besser, dem Rest der Tierarten inklusive denen des Bodenlebens, was übrigens erstmals so großartig mit untersucht wurde, schlecht. Der Patient hat Fieber. Er wird immer kränker und je nach Gruppe befinden sich 75 % bis etwa 30 % der Arten auf dem absteigenden Ast: Kein Wunder, wenn man so lange Fieber hat.

Und jetzt? Was macht das Bundesforschungsministerium mit dem chronischen Kranken? Es ist froh, dass diese Diagnose so ausführlich ist, sieht aber keinen akuten (Be)Handlungsbedarf.

Was auffällt, ist doch immer, was nicht gesagt wird, wer nicht da war und wer sich nicht mit einer wirklich hilfreichen Therapie zu Wort gemeldet hat: Bei der Veranstaltung fehlten die Köpfe vom Umweltministerium, vom Landwirtschaftsministerium, genauso das Verkehrsministerium, das Wirtschaftsministerium. Mithin die größten Verursacher des Artensterbens, wenn man böse sein will bzw. die Krankenhausbetreiber, wenn man lieb sein will. Vielleicht sollten sie sich alle mal zu einem einvernehmlichen Krankenbesuch verabreden, um aus verschiedenen Disziplinen jeder seinen Beitrag zur therapeutischen Gesundung des Patienten zu leisten. Aber das geht nicht, auch das machte die Veranstaltung in der Landesvertretung von Sachsen-Anhalt klar. Denn jedes Ministerium hat sein Programm, sein Geld, seine Fördertöpfe. Und eine fachübergreifende Zusammenarbeit funktioniert nicht wegen der Konkurrenz der Ministerien gegeneinander. Es behandeln sehr viele Ärzte den Patienten, die nicht miteinander reden, und denen das Allgemeinwohl nicht am Herzen liegt.

So entsteht der Eindruck, das Fieber messen das Einzige effektive ist, was der Politik seit 50 Jahren einfällt. Und es wird klar, dass die Menschen, die echten Artenschutz betreiben oder denen er am Herzen liegt, von dort oben nicht wirklich viel zu erwarten haben. Nur wir unten an der Basis helfen dem Patienten, dass er nicht noch kränker wird. Wir fabrizieren Wadenwickel und kalte Umschläge. Ob das gegen inzwischen chronische Fieber hilft, ist eine andere Frage.

Außer Spesen nicht gewesen? Die politische Unfähigkeit, der Unwillen, die Ignoranz gegenüber dem Artensterben mindert nicht den Wert dieser unglaublichen Studie. Es ist das beste und frustrierendste Nachschlagewerk über die Fieberkurve des Patienten Artenschutz. Es ist eine großartige und bisher unerreichte interdisziplinäre Meisterleistung von ganz vielen Beteiligten. Es ist ein Kompendium der Fakten. Die 1200 Seiten schwere Druckausgabe sollte übrigens – aufgrund der Gefahr den Patienten zu erschlagen – keiner in die Hand nehmen müssen. Die Onlineausgabe aber schon.

Und hier geht es auf direktem Weg dahin.

Reinhard Witt