Viele Erwachsene kennen das existenzielle Bedürfnis nach Natur. Und für viele von uns ist unumstritten, dass Naturerfahrungen für Kinder wichtig sind. Aber lassen sich diese Annahmen überhaupt wissenschaftlich belegen?
Mit seinem Buch „Last Child in the Woods“[1] hat der US-Journalist Richard Louv 2005 offenbar ein brennendes Thema angesprochen und damit den Anstoß für Überlegungen zur „Renaturierung“ der kindlichen Sozialisation gegeben. Er fasste wissenschaftliche Studien zusammen, die darauf hindeuten, dass Kinder mit frühen, andauernden Naturkontakten ihren naturfernen Gleichaltrigen in intellektueller, physischer und spiritueller Hinsicht überlegen sind. Spielen in der Natur scheint im Hinblick auf die starke Zunahme zivilisatorisch bedingter Fehlentwicklungen geradezu eine therapeutische Wirkung zu entfalten.
Bereits 1994 hatte sich auch Ulrich Gebhard in seinem Buch „Kind und Natur“ mit der Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung – so der Untertitel – von Kindern befasst.[2] Er kommt zu dem Schluss, dass vor allem das aktive Spielen in grüner Umgebung die Aufmerksamkeit verbessere und dass eine vegetationsreiche Umgebung als Puffer für stressige Lebensereignisse wirke und förderlich für das Selbstwertgefühl sei. Neben diesen günstigen Effekten von Naturerfahrungen betont er auch die Einflüsse auf die Gesundheit von Kindern:
„Die empirischen Befunde zur belebenden und gesundheitsfördernden Wirkung von Natur sind in der Tat bemerkenswert.“
Auch jüngere wissenschaftliche Untersuchungen belegen den hohen Wert von Naturerlebnissen für die gesunde Entwicklung von Kindern. Eine Auswertung von 115 internationalen Studien weist nach, wie notwendig Naturbegegnungen für die mentale, soziale und physische Entwicklung sind.[3]
Je früher, desto besser!
Die Ergebnisse der von Andreas Raith und Armin Lude 2014 zusammengestellten Studien sind eindeutig: Naturerfahrung fördert die kindliche Entwicklung! Dabei waren die Effekte größer, je früher die Kinder diesen Kontakt erlebten.
Einige Erkenntnisse in Kürze:
– Kinder waren auf „grünen“ Schulhöfen motivierter (im Übrigen auch die Lehrkräfte).
– Bei einer Befragung von Schulleitungen, Lehrkräften und Eltern von 149 Schulen mit naturnah gestaltetem Schulhof stellte sich heraus, dass die Kinder höflicher waren, besser kommunizierten und kooperativer waren. Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass es auf einem grünen Schulhof weniger Disziplinprobleme und weniger aggressives Verhalten gab.
– Auf naturnah gestalteten Schulhöfen wurde das kreativere Spiel beobachtet: Seit der Umgestaltung sei dieses aktiver, fantasievoller und konstruktiver geworden.
– Die Autoren stellen fest: „Generell sollten Umweltbildungsmaßnahmen möglichst in der frühen Kindheit beginnen. Die Kinder brauchen dabei sinnliche Wahrnehmungen, sie sollten der Natur im Freien begegnen und die Naturerfahrungen sollten in sozialen Kontexten stattfinden.“
„Nur was ich kenne, das liebe ich, nur was ich liebe, das schütze ich.“
Dieses Konrad Lorenz zugeschriebene Zitat verweist auf den Zusammenhang zwischen Naturerfahrung und Umweltbewusstsein. Untersuchungen zeigen tatsächlich, dass Naturerlebnisse in der Kindheit eine der wichtigsten Anregungsfaktoren für späteres Engagement für Umwelt- und Naturschutz sind. Laut Gebhard ist unser Gefühl für die Natur eher von positiven Erlebnissen und Intuitionen als von rationalen Argumenten geprägt. „Es spricht viel dafür, dass die Wertschätzung von Natur eher das Ergebnis von beiläufigen, gelungenen Erfahrungen in der Natur ist, unabhängig von deren umweltpädagogischen Intentionen. Die Erhöhung der Wertschätzung von Natur wäre dann ein geradezu unbeabsichtigter Nebeneffekt von Naturerlebnissen.“
Auch Raith und Lude verweisen darauf, dass die meisten Studien belegen, dass das alleinige Wissen über natürliche Zusammenhänge nur geringen Einfluss auf das Umweltbewusstsein und noch weniger auf das Umwelthandeln hat. Viel wichtiger sei, dass die Kinder handelnde Auseinandersetzung, also konkrete Naturerlebnisse hätten. Eine positive Veränderung des Umweltbewusstseins und -handelns wurde dabei auch auf naturnah umgestalteten Schulhöfen beobachtet.
Vom Verschwinden der Natur
In diesem Zusammenhang soll auch auf die sog. „Shifting Baselines“ verwiesen werden. Sie beschreiben das Phänomen, dass die Orientierungspunkte, anhand derer Menschen ihre Umwelt beurteilen, sich schleichend verschieben. Das Konzept stammt aus der Umweltforschung, lässt sich aber auch auf den Erfahrungshorizont von Kindern übertragen.
In der Forschung geht es dabei um die Frage, welcher Umweltzustand als normal empfunden wird. Eine vielzitierte empirische Schlüsselstudie untersuchte dabei die Wahrnehmung von Fisch-beständen an der kalifornischen Küste. Forscher*innen befragten hier drei Generationen von kalifornischen Fischern, wie sich der Fischbestand in ihrer Bucht verändert habe. Allen war bewusst, dass sich der Fischreichtum verschlechtert hat. Während die ältesten Fischer sich noch an elf Arten erinnerten, die sie früher vor der Küste fingen und die verschwunden waren, nannten die jüngsten Fischer nur zwei Fischarten, die es früher einmal gegeben hat und jetzt nicht mehr gab. Ihre Wahrnehmung von Umweltveränderung setzte an einem ganz anderen Referenzpunkt an: Sie nahmen nur die Verschlechterung der Fischbestände aus ihren verschobenen Referenzpunkten wahr. Das Fehlen der Fischarten gegenüber dem früheren Zustand in unmittelbarer Küstennähe war ihnen gar nicht mehr bewusst.[4]
Für uns heißt das: Kinder, die in ihrem Lebensumfeld z.B. kaum noch Vogel- oder Schmetterlingsarten erleben (und kennen), werden diesen Umstand weder bedauern noch eine „Verarmung“ wahrnehmen.
Natur in die Lebenswelt der Kinder!
Aus alledem lässt sich schließen: Naturnahe Außenflächen sind kein „Nice to have“, sondern notwendig. So ziehen auch Raith und Lude aus ihrer Studienauswertung das Fazit:
„Was aber wie ein Querschnitt aus allen Ergebnissen bleibt, ist die Notwendigkeit von Naturerfahrungen für Kinder. Kinder brauchen Räume, in denen sie die Natur erfahren können. Dies könnte unsere eigentliche Herausforderung sein.“
Sorgen wir also für Schul- und Kitagelände sowie Spielplätze, die Kindern und Jugendlichen eine Vielzahl von (auch beiläufigen!) Naturerlebnissen ermöglichen. Gestalten wir ihnen einen Lebensraum, in dem sie sich gerne für einen Großteil des Tages (im Ganztagsbetrieb) oder in ihrer Freizeit aufhalten, da er eine abwechslungsreiche und anregende Umgebung bietet.
Auszug aus Natur & Garten, Themenheft NaturErlebnisRäume, Kindern Naturerfahrungen ermöglichen, Stefan Behr.
Sehen Sie hier mehr: Kurzfilm NaturErlebnisRäume
Lesen Sie hier mehr:
Hören Sie hier nach:
Alle Infos zum NER Kongress findet ihr hier.
[1] Richard Louv: Last Child in the Woods – Saving Our Children from Nature-Deficit Disorder. Algonquin 2005.
[2] Ulrich Gebhard: Kind und Natur – Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung. 5. Auflage, Wiesbaden 2020.
[3] Andreas Raith und Armin Lude: Startkapital Natur: Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. München 2014.
[4] Siehe Sáenz-Arroyo, A. u. a. (2005): Rapidly shifting environmental baselines among fishers of the Gulf of California, Proceedings of the Royal Society, 272/2005, S. 1957-1962.
Viele Erwachsene kennen das existenzielle Bedürfnis nach Natur. Und für viele von uns ist unumstritten, dass Naturerfahrungen für Kinder wichtig sind. Aber lassen sich diese Annahmen überhaupt wissenschaftlich belegen?
Mit seinem Buch „Last Child in the Woods“[1] hat der US-Journalist Richard Louv 2005 offenbar ein brennendes Thema angesprochen und damit den Anstoß für Überlegungen zur „Renaturierung“ der kindlichen Sozialisation gegeben. Er fasste wissenschaftliche Studien zusammen, die darauf hindeuten, dass Kinder mit frühen, andauernden Naturkontakten ihren naturfernen Gleichaltrigen in intellektueller, physischer und spiritueller Hinsicht überlegen sind. Spielen in der Natur scheint im Hinblick auf die starke Zunahme zivilisatorisch bedingter Fehlentwicklungen geradezu eine therapeutische Wirkung zu entfalten.
Bereits 1994 hatte sich auch Ulrich Gebhard in seinem Buch „Kind und Natur“ mit der Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung – so der Untertitel – von Kindern befasst.[2] Er kommt zu dem Schluss, dass vor allem das aktive Spielen in grüner Umgebung die Aufmerksamkeit verbessere und dass eine vegetationsreiche Umgebung als Puffer für stressige Lebensereignisse wirke und förderlich für das Selbstwertgefühl sei. Neben diesen günstigen Effekten von Naturerfahrungen betont er auch die Einflüsse auf die Gesundheit von Kindern:
„Die empirischen Befunde zur belebenden und gesundheitsfördernden Wirkung von Natur sind in der Tat bemerkenswert.“
Auch jüngere wissenschaftliche Untersuchungen belegen den hohen Wert von Naturerlebnissen für die gesunde Entwicklung von Kindern. Eine Auswertung von 115 internationalen Studien weist nach, wie notwendig Naturbegegnungen für die mentale, soziale und physische Entwicklung sind.[3]
Je früher, desto besser!
Die Ergebnisse der von Andreas Raith und Armin Lude 2014 zusammengestellten Studien sind eindeutig: Naturerfahrung fördert die kindliche Entwicklung! Dabei waren die Effekte größer, je früher die Kinder diesen Kontakt erlebten.
Einige Erkenntnisse in Kürze:
– Kinder waren auf „grünen“ Schulhöfen motivierter (im Übrigen auch die Lehrkräfte).
– Bei einer Befragung von Schulleitungen, Lehrkräften und Eltern von 149 Schulen mit naturnah gestaltetem Schulhof stellte sich heraus, dass die Kinder höflicher waren, besser kommunizierten und kooperativer waren. Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass es auf einem grünen Schulhof weniger Disziplinprobleme und weniger aggressives Verhalten gab.
– Auf naturnah gestalteten Schulhöfen wurde das kreativere Spiel beobachtet: Seit der Umgestaltung sei dieses aktiver, fantasievoller und konstruktiver geworden.
– Die Autoren stellen fest: „Generell sollten Umweltbildungsmaßnahmen möglichst in der frühen Kindheit beginnen. Die Kinder brauchen dabei sinnliche Wahrnehmungen, sie sollten der Natur im Freien begegnen und die Naturerfahrungen sollten in sozialen Kontexten stattfinden.“
„Nur was ich kenne, das liebe ich, nur was ich liebe, das schütze ich.“
Dieses Konrad Lorenz zugeschriebene Zitat verweist auf den Zusammenhang zwischen Naturerfahrung und Umweltbewusstsein. Untersuchungen zeigen tatsächlich, dass Naturerlebnisse in der Kindheit eine der wichtigsten Anregungsfaktoren für späteres Engagement für Umwelt- und Naturschutz sind. Laut Gebhard ist unser Gefühl für die Natur eher von positiven Erlebnissen und Intuitionen als von rationalen Argumenten geprägt. „Es spricht viel dafür, dass die Wertschätzung von Natur eher das Ergebnis von beiläufigen, gelungenen Erfahrungen in der Natur ist, unabhängig von deren umweltpädagogischen Intentionen. Die Erhöhung der Wertschätzung von Natur wäre dann ein geradezu unbeabsichtigter Nebeneffekt von Naturerlebnissen.“
Auch Raith und Lude verweisen darauf, dass die meisten Studien belegen, dass das alleinige Wissen über natürliche Zusammenhänge nur geringen Einfluss auf das Umweltbewusstsein und noch weniger auf das Umwelthandeln hat. Viel wichtiger sei, dass die Kinder handelnde Auseinandersetzung, also konkrete Naturerlebnisse hätten. Eine positive Veränderung des Umweltbewusstseins und -handelns wurde dabei auch auf naturnah umgestalteten Schulhöfen beobachtet.
Vom Verschwinden der Natur
In diesem Zusammenhang soll auch auf die sog. „Shifting Baselines“ verwiesen werden. Sie beschreiben das Phänomen, dass die Orientierungspunkte, anhand derer Menschen ihre Umwelt beurteilen, sich schleichend verschieben. Das Konzept stammt aus der Umweltforschung, lässt sich aber auch auf den Erfahrungshorizont von Kindern übertragen.
In der Forschung geht es dabei um die Frage, welcher Umweltzustand als normal empfunden wird. Eine vielzitierte empirische Schlüsselstudie untersuchte dabei die Wahrnehmung von Fisch-beständen an der kalifornischen Küste. Forscher*innen befragten hier drei Generationen von kalifornischen Fischern, wie sich der Fischbestand in ihrer Bucht verändert habe. Allen war bewusst, dass sich der Fischreichtum verschlechtert hat. Während die ältesten Fischer sich noch an elf Arten erinnerten, die sie früher vor der Küste fingen und die verschwunden waren, nannten die jüngsten Fischer nur zwei Fischarten, die es früher einmal gegeben hat und jetzt nicht mehr gab. Ihre Wahrnehmung von Umweltveränderung setzte an einem ganz anderen Referenzpunkt an: Sie nahmen nur die Verschlechterung der Fischbestände aus ihren verschobenen Referenzpunkten wahr. Das Fehlen der Fischarten gegenüber dem früheren Zustand in unmittelbarer Küstennähe war ihnen gar nicht mehr bewusst.[4]
Für uns heißt das: Kinder, die in ihrem Lebensumfeld z.B. kaum noch Vogel- oder Schmetterlingsarten erleben (und kennen), werden diesen Umstand weder bedauern noch eine „Verarmung“ wahrnehmen.
Natur in die Lebenswelt der Kinder!
Aus alledem lässt sich schließen: Naturnahe Außenflächen sind kein „Nice to have“, sondern notwendig. So ziehen auch Raith und Lude aus ihrer Studienauswertung das Fazit:
„Was aber wie ein Querschnitt aus allen Ergebnissen bleibt, ist die Notwendigkeit von Naturerfahrungen für Kinder. Kinder brauchen Räume, in denen sie die Natur erfahren können. Dies könnte unsere eigentliche Herausforderung sein.“
Sorgen wir also für Schul- und Kitagelände sowie Spielplätze, die Kindern und Jugendlichen eine Vielzahl von (auch beiläufigen!) Naturerlebnissen ermöglichen. Gestalten wir ihnen einen Lebensraum, in dem sie sich gerne für einen Großteil des Tages (im Ganztagsbetrieb) oder in ihrer Freizeit aufhalten, da er eine abwechslungsreiche und anregende Umgebung bietet.
Auszug aus Natur & Garten, Themenheft NaturErlebnisRäume, Kindern Naturerfahrungen ermöglichen, Stefan Behr.
Sehen Sie hier mehr: Kurzfilm NaturErlebnisRäume
Lesen Sie hier mehr:
Hören Sie hier nach:
Alle Infos zum NER Kongress findet ihr hier.
[1] Richard Louv: Last Child in the Woods – Saving Our Children from Nature-Deficit Disorder. Algonquin 2005.
[2] Ulrich Gebhard: Kind und Natur – Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung. 5. Auflage, Wiesbaden 2020.
[3] Andreas Raith und Armin Lude: Startkapital Natur: Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. München 2014.
[4] Siehe Sáenz-Arroyo, A. u. a. (2005): Rapidly shifting environmental baselines among fishers of the Gulf of California, Proceedings of the Royal Society, 272/2005, S. 1957-1962.